"Intendant möchte ich nicht sein"


Sabine Wackernagel über Rosa Luxemburg, Mutter Courage und heutiges Theater


?Zum Einstieg überreiche ich erst mal eine kleine Rezension Ihrer Rosa Luxemburg-CD. Ist Frau Luxemburg besonders wichtig für Sie, gibt es da historische oder persönliche Gründe?

(liest) Ja, schön. Also, interessiert hat mich die Rosa Luxemburg schon immer. Anfangs der 70er-Jahre hauptsächlich aus politischen Gründen (lacht). Nicht, dass ich eine Alt-68erin bin, aber in den Siebzigern, als ich in Tübingen im Ensemble bei Beilharz [Vorname? War er Intendant?] anfing, gab es am Theater sozialistische Arbeitskreise. (In verschiedenen Richtungen natürlich. Kämpfe unter den Schauspielern, ob man zur DKP oder zur KPD/ML tendiert)???). War alles neu und faszinierend für mich, und da habe ich die Luxemburg und ihre Schriften kennen gelernt. Das waren aber nicht nur ihre Theorien, die bekam ich eigentlich mehr über Biografien mit, als ihre Privatbriefe.

? Dieser private Aspekt scheint auch bei Ihrer Textauswahl dominiert zu haben.

Am Anfang hatte ich auch viele politische Zitate, die ich auch bei Lesungen immer mit verwende. Auf der CD wären die zu sehr verkürzt worden, da entschied ich mich lieber für das Persönliche. Da tu ich ihr vielleicht auch Unrecht, kann aber sagen, ich habe mich bewusst beschränkt. Das finde ich ehrlicher als immer nur diese berühmten Sätze wie "Freiheit ist immer nur die Freiheit der Andersdenkenden". Schon mit dem müsste man sich ausgiebiger auseinandersetzen. Das war ja in einer ziemlich harten Abrechnung mit Lenin und dessen Bolschewismus, wo sie Parteidiktatur und Funktionärseliten anprangert, eher eine Randnotiz.

? Besagter Satz wird ja auch von ganz anders Denkenden - mal vorausgesetzt, dass wären auch alles Denkende - genommen. Würde Frau Luxemburg all denen etwa die Freiheit lassen?

Würde sie eben nicht. Diesen Satz bezog sie nur auf Andersdenkende innerhalb ihrer Partei und des Sozialismus´. Sie hätte sicher nicht gemeint, dass man Ausländerfeinde und Nazis tolerieren oder akzeptieren müsse.

? Falsch benutzte und aus dem Zusammenhang gerissene Zitate gibt es ja überall. Womit wir jetzt zum Theater kommen. Immer noch werden herausragende und mutige Frauen nach Bertolt Brecht gern als "Mutter Courage" bezeichnet. Dabei ist die Hauptperson dieses Stückes doch eher eine opportunistische Raffhenne, oder?

Richtig. Mir wurde das auch schon im positiven Sinne zugesprochen, die "kraftvolle Mutter Courage auf der Bühne" oder so. Trotzdem ist sie eine meiner absoluten Traumrollen. Gerade weil sie so opportunistisch und uneinsichtig ist. Dass man immer wieder Dinge, die man im Kopf schon längst verstehen müsste, nicht praktisch umzusetzen schafft. So eine Frau, die eigentlich positiv wäre mit ihrer Kraft und Mütterlichkeit, und dann ist die so dumm. Damit kann ich mich durchaus identifizieren. Wir handeln ja dauernd so: Schrecklich mit der Luftverschmutzung, aber ich muss da jetzt hinfliegen, weil es billiger und schneller geht. Das Grundthema ist immer noch aktuell, wenn auch einzelne Szenen verstaubt sind.

? Man müsste es halt modernisieren. Aber bitte keine Techno-Version. Oder was meinen Sie? Soll das heutige Theater eher moralische Anstalt oder Event-Kultur sein?

Moralische Anstalt ist es garantiert nicht mehr. Muss es das denn auch sein?

? "Anstalt" natürlich nicht, aber von hier ein klares Ja im Sinne von mehr Ratio, Aufklärung, Erfahrungs- und Horizonterweiterung.

Aufklärend, animierend, anregend, um weiter zu denken - aber nicht belehrend! In den Siebzigern, als Heilige Johanna der Schlachthöfe zum Beispiel dachte ich, "Übermorgen ist Revolution, und ich hab sie angeleiert". Das haben wir uns nur vorgemacht. Das hat nie gestimmt, dass das Theater sowas anzetteln kann. Aber ich wünsche mir vom Theater, dass gesellschaftliche Verhältnisse gespiegelt werden und mir gleichzeitig ein Hoffnungsschimmer oder eine Utopie vermittelt wird. Da wir aber alle um unsere Zuschauerzahlen bangen, verstehe ich, dass die alle versuchen, der Eventkultur hinterher zu hoppeln. Das ist nicht nur in Kassel so. Gerade gestern sah ich Szenenausschnitte aus Berlin, Castorffs [?] Elementarteilchen nach Houellebeque. Die hüpfen da alle in der Badehose mit Gummibällen herum. Das verweist zwar auf eine tatsächliche Infantilisierung der Gesellschaft, und wir haben keine humane Kommunikation mehr, alle machen Dadada und Blablabla. Aber ich find´s kotzlangweilig. Intendant möchte ich aber heut zu Tage auch nicht unbedingt sein.


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